Informationen über die Essstörung ARFID/SED

Wichtiger Hinweis:
Die hier zusammengetragenen Informationen basieren auf persönlichen Erfahrungen von Betroffenen, Angehörigen sowie Therapeuten und Ärzten aus Deutschland, Großbritannien, USA, Kanada und Australien. Weitere Quellen sind unten aufgeführt. Bitte beachtet, dass alle Angaben ohne Gewähr auf Vollständigkeit sind. 

Zusätzliche Quellen sind unten aufgeführt. Bitte beachtet, dass alle Angaben ohne Gewähr auf Vollständigkeit sind.

Unser Ziel ist es, auf Grundlage dieser vielfältigen Einblicke nützliche Informationen zu bieten. Wir empfehlen jedoch, professionelle Beratung oder medizinischen Rat in Anspruch zu nehmen, um sicherzustellen, dass die erhaltenen Informationen individuell und korrekt angewendet werden können.  Für weiterführende Fragen stehen wir euch gerne zur Verfügung. Wir danken für euer Verständnis und euer Interesse.

Was ist ARFID/SED?

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SED (Selective Eating Disorder) und ARFID (Avoidant-Restrictive Food Intake Disorder) bedeuten auf Deutsch übersetzt „Selektive Essstörung“ bzw. „vermeidende, restriktive Essstörung“.
Es handelt sich dabei um Bezeichnungen für spezifisches Essverhalten, bei dem Betroffene aufgrund von aversiven Reaktionen bestimmte Lebensmittel(-gruppen) meiden, ohne dass Allergien, Unverträglichkeiten, Körperbild- oder Gewichtsbedenken vorliegen.  

Dies kann in Folge zu einem eingeschränkten Nahrungskonsum, ernährungsbedingten Nährstoffmängeln und sozialen Schwierigkeiten führen.

Die Ausprägungen dieser Essstörungen variieren stark und können sich auf verschiedene Nahrungsmittel beziehen. Einige Betroffene haben Schwierigkeiten nur mit einzelnen Lebensmitteln, während andere ganze Lebensmittelgruppen meiden, wie zum Beispiel Obst, Gemüse, Fleisch oder Fisch. Es gibt auch Personen, die nur eine sehr geringe Anzahl von Lebensmitteln (< 10) essen können. Auffällig ist, dass es bei vielen Betroffenen eine Überschneidung der "Safe Foods" (= Bezeichnung für Lebensmittel, die akzeptiert werden) gibt. Dabei handelt es sich häufig um kohlenhydratreiche oder geschmacklich neutrale Lebensmittel wie helle Brötchen, Toast, Nudeln, Pommes, Reis, diverses Weizengebäck und oft auch Süßigkeiten. 

Die Aversion gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln kann sich auf verschiedene Weisen zeigen, es wird aber überwiegend ein Gefühl von Ekel oder Angst von den Betroffenen beschrieben. 
Einige können die betreffende Nahrung nicht einmal berühren oder riechen; viele erleben aber jedenfalls einen unkontrollierbaren Brech- oder Würgereiz, sobald sie das entsprechende Lebensmittel im Mund haben.  Bei einigen kommt es tatsächlich zum Erbrechen, während bei anderen bereits Geschlucktes im Magen bleibt und es zu einem "leeren" Würgen kommt, ähnlich wie beim Rachenabstrich beim Arzt. Das Essen trotz Brechreiz zu schlucken, ist in der Regel nicht möglich.
Es erfordert erhebliche Überwindung, sich auf unbekannte Nahrung oder Gerichte einzulassen, da die Betroffenen entweder bereits aufgrund der visuellen, haptischen oder olfaktorischen Eigenschaften angewidert sind oder sich vor dem Auftreten eines Brechreizes beim Essen fürchten. 

Für viele Eltern, Pädagogen, Ärzte und Therapeuten stellt es eine Herausforderung dar zu erkennen, ob es sich bei einem Kind lediglich um eine vorübergehende Phase des "picky eating" (= wählerisches Essverhalten) handelt, die sich mit der Zeit "verwächst", oder ob eine ernsthafte Essstörung vorliegt. 

ARFID/SED-Betroffene sind äußerlich nicht von Nicht-Betroffenen zu unterscheiden. Viele haben ein normales Gewicht, einige weisen Untergewicht auf, weil sie Schwierigkeiten haben, genug Nahrungsmittel zu finden, die sie essen können, während andere wiederum übergewichtig sind, weil sie ausschließlich ungesunde Lebensmittel akzeptieren. Das Köpergewicht ist daher kein eindeutiger Indikator für diese Essstörung.

Betroffene haben auch keine gestörte Körperwahrnehmung oder den Wunsch, einem bestimmten Körperbild zu entsprechen.
Einige Betroffene zeigen aufgrund ihrer einseitigen Ernährung einen Mangel an Mineralstoffen und Vitaminen im Blut, was möglicherweise zu körperlichen Beschwerden führen kann. 

ARFID/SED stellt für die Betroffenen in der Regel eine erhebliche (sozial-)psychische Belastung dar. Oft empfinden sie Unbehagen beim Essen in Gesellschaft, da sie nicht möchten, dass ihre speziellen Essgewohnheiten bemerkt oder kommentiert werden. Einige meiden deshalb gemeinsame Restaurantbesuche oder Urlaube mit Freunden und Kollegen, lehnen Essenseinladungen ab und ziehen sich immer mehr zurück.
Aber auch gerade im engsten Kreise, wie in der Familie oder Partnerschaft, stellt das Essverhalten nicht selten eine Belastung dar. Denn oft werden sich Sorgen gemacht, dass die einseitige Ernährung zu Mangelerscheinungen führen könnte, oder das Umfeld schränkt sich selbst in der Ernährung ein, um bspw. nicht doppelt kochen zu müssen. Für Nicht-Betroffene ist es oft schwer, die Essstörung zu verstehen und das führt oft zu Konflikten und angespannter Stimmung im Alltag. 

Vorkommen/Verbreitung und Verlauf

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Die Essstörung ist geschlechtsunabhängig und kann in allen Altersgruppen auftreten. Sie manifestiert sich oft während der Einführung von Beikost, kann aber je nach Ursachen in jedem Lebensabschnitt entstehen und bis ins Erwachsenenalter fortbestehen. Leider ist diese Form der Essstörung noch nicht ausreichend bekannt, besonders in Deutschland im Vergleich zum englischsprachigen Raum. Daher gibt es begrenzte Informationen über die Verbreitung von ARFID, und die Dunkelziffer der Betroffenen ist hoch. Aufgrund mangelnden Bewusstseins werden viele Menschen mit dieser Essstörung fälschlicherweise als "kompliziert", "mäkelig" oder "picky eaters" abgestempelt. 

Mögliche Ursachen

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Die genauen Ursachen für die Entwicklung von ARFID/SED sind bisher nicht abschließend geklärt und es existieren nur Vermutungen und Theorien. Es ist noch ungewiss, inwieweit genetische Veranlagungen eine Rolle spielen. Möglicherweise sind auch mehrere Faktoren gleichzeitig ursächlich. Einige mögliche Erklärungen könnten sein:

  • Traumatische Erfahrung im frühkindlichen Alter: insbesondere denkbar ist eine Situation, in der das Kind genötigt wurde gegen seinen Willen zu essen. Das Trauma sollte mithilfe von professioneller Psychotherapie aufgearbeitet werden.
  • Spezifische Phobie: Eine Phobie kann plötzlich und ohne erkennbaren Grund entstehen. Womöglich entsteht ein Assoziations-Fehler im Gehirn, bei dem Dinge und Emotionen im Rahmen von neurologischen Speicherprozessen falsch zugeordnet werden (hier: Essen gleich Angst oder Ekel).  Betroffene könnten dann auf eine herkömmlichen Phobie-Therapie ansprechen. 
  • Entgleisung des natürlichen Ekelgefühls: Alle Menschen haben von Natur aus eine instinktive Abneigung gegen Bitteres, Vergorenes oder unangenehme Gerüche, da es uns vor potenziell Giftigem schützen soll. Bei Betroffenen könnte sich dies fälschlicherweise auf harmlose Lebensmittel ausgeweitet haben, die dann vom Gehirn als bedrohlich wahrgenommen werden, obwohl sie keine Gefahr darstellen. 
  • Hochsensibler Geschmackssinn oder allgemeine Hochsensibilität: Ursächlich könnte ein besonders ausgeprägter Geschmackssinn sein, durch den Lebensmittel intensiver oder anders wahrgenommen werden. Dies könnte erklären, warum sie problemlos fade schmeckende Lebensmittel essen können (z.B. trockene Weißmehlprodukte).
  • Plötzliches Auftreten nach bestimmten Erkrankungen oder Medikamenteneinnahme: Bei einigen tritt ARFID/SED nach spezifischen Gesundheitszuständen (bspw. Schlaganfall, Infektionen, Magen-Darm-Erkrankung, hormonelle Veränderungen) oder der Einnahme bestimmter Medikamente auf, die die Geschmackswahrnehmung oder -nerven beeinträchtigen können.

Therapie- & Behandlungsmöglichkeiten

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Aufgrund des frühzeitigen Auftretens und der langanhaltenden Dauer des eingeschränkten Essverhaltens können schwerwiegende Gesundheits- und Entwicklungsprobleme entstehen.
Bei erheblichem Gesundheitsrisiko, wie starkem Untergewicht, ist eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich. Falls der Betroffene jegliche kalorienhaltige Nahrung ablehnt, sollte eine Ernährung über eine PEG-Sonde in Betracht gezogen werden, während eine Nasensonde kontraindiziert ist.

Neben der medizinischen Abklärung sollte eine ambulante, auf ARFID spezialisierte kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung, eventuell unter Einbezug der Eltern, in Betracht gezogen werden. Aufgrund der begrenzten Anzahl von Therapeuten in Deutschland, die mit ARFID/SED vertraut sind, gestaltet sich die Suche nach geeigneter Behandlung für Betroffene häufig als herausfordernd.  Im Ausland sind bereits einige Fortschritte zu verzeichnen, wie beispielsweise in England, wo ein Therapeut, der sich auf ARFID spezialisiert hat, eine Mischung aus kognitiver Verhaltenstherapie und Hypnose anbietet. Seine Therapie soll recht erfolgreich sein und er bietet auch Behandlungen über Videocalls an, jedoch muss man die Kosten dafür selbst tragen.


Nach bisherigen Erfahrungsberichten wurden mit folgenden alternativen Behandlungen kleinere Therapieerfolge erzielt:

  • Kognitive Verhaltenstherapie/ Phobie-Therapie: Da den meisten Psychotherapeuten ARFID kein Begriff ist, gibt es keine konkrete Therapie dafür. Therapeuten können aber versuchen, die ARFID wie eine Angststörung/spezifische Phobie zu behandeln und dies auch so bei der Krankenkasse abrechnen.
  • Hypnose: Ein paar Betroffenen (auch Kindern) haben dadurch Fortschritte machen können.
  • Logopädie oder Ergotherapie: Einige Eltern haben dort gute Erfahrungen mit ihren von ARFID betroffenen Kindern gemacht.
  • Ernährungsberatung



Was auf keinen Fall hilft:


  • Den Betroffenen "hungern lassen" („Du isst das jetzt oder du isst gar nichts.") oder zum Essen zwingen oder erpressen („Du musst das essen! Sonst passiert XY“).  Diese Herangehensweise führt zu einem erheblichen Vertrauensverlust und neuen traumatischen Erlebnissen. Das Verhältnis zum Essen wird dadurch noch gestörter und die Aussicht auf Besserung noch geringer. Ähnliches gilt, wenn Betroffene mit ihren Essgewohnheiten bloßgestellt oder verspottet werden. 
  • Betroffene, einschließlich Kinder, die an ARFID/SED leiden, lassen sich nicht bestechen. Die angebotene Belohnung steht in keinem angemessenen Verhältnis zu ihrer Angst, ihrem Ekel und der Überwindung. 
  • Mangelndes Verständnis und unüberlegte Äußerungen („Jetzt stell dich nicht so an“, „Das schmeckt sooo lecker, probier' doch wenigstens mal, sonst kannst du ja gar nicht wissen, ob du es magst“) sind ebenfalls kontraproduktiv und einfach übergriffig. Dies entspricht in etwa der Aufforderung an jemanden mit Höhenangst, einfach mal herunterzuspringen, da es statistisch unwahrscheinlich ist, dass das Sicherungsseil reißt, oder jemandem mit Spinnenphobie aufzufordern, eine Spinne anzufassen, da die meisten Spinnen hierzulande ja ungiftig und harmlos sind.

Weiterführende Informationen & Quellen

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Literatur:

  • American Psychiatric Association (APA). (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-5). Washington, DC: American Psychiatric Association.
  • Fisher, M.M., Rosen, D.S., Ornstein, R.M., et al. (2014). Characteristics of Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder in Children and Adolescents: A «New Disorder» in DSM-5. Journal of Adolescent Health, 55(1), 49–52.
  • Hartmann, A.S. (2021). Die Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme. Psychotherapeutenjournal, 2/2021, 134-143. https://www.psychotherapeutenjournal.de/ptk/web.nsf/id/li_ausgabe-2-2021.html
  • Nicely, T.A., Lane-Loney, S., Masciulli, E., Hollenbeak, CS., Ornstein, R.M. (2014). Prevalence and characteristics of avoidant/ restrictive food intake disorder in a cohort of young patients inday treatment for eating disorders. Journal Eating Disorder, 2(1), 21.
  • Ornstein, R.M., Essayli, J.H., Nicely, T.A., Masciulli, E., Lane-loney, S. (2017). Treatment of avoidant/restrictive food intake disorder in a cohort of young patients in a partial hospitalization program for eating disorders. International Journal Eating Disorders, 50(9), 1067–1074.
  • Thomas, J. J. & Eddy, K. T. (2019). Cognitive-behavioral therapy for avoidant/ restrictive food intake disorder. Cambridge, UK: Cambridge University Press.
  • Thomas, J.J., Lawson, E.A., Micali, N., Misra, M., Deckersbach, T., Eddy, K.T. (2017). Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder: a Three-Dimensional Model of Neurobiology with Implications for Etiology and Treatment. Current Psychiatry Reports, 19(8), 54. 



Websites: