Informationen über die Essstörung ARFID/SED

Anmerkung: Die hier zusammengetragenen Informationen beruhen auf den persönlichen Erfahrungsberichten und dem Wissen von Betroffenen, Angehörigen und Therapeuten/Ärzten sowohl aus Deutschland als auch internationalem Raum. Weitere Quellen sind unten genannt. Alle gemachten Angaben sind ohne Gewähr auf Vollständigkeit.

Was ist ARFID/SED?

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SED (Selective Eating Disorder) und ARFID (Avoidant-Restrictive Food Intake Disorder) bedeuten ins Deutsche übersetzt „Selektive Essstörung“ bzw. „vermeidende, restriktive Essstörung“. Beides beschreibt ein bestimmtes Essverhalten, bei dem Betroffene gewisse Lebensmittel nicht zu sich nehmen können, wobei hier keine Allergie oder Unverträglichkeit die Ursache ist, sondern eine Aversion, die meist psychosomatisch ausgeprägt ist.

Selektive Essstörungen können sehr unterschiedlich ausfallen und sich auf verschiedenste Lebensmittel beziehen. Manche Betroffene haben nur mit einem oder wenigen Nahrungsmitteln ein Problem, andere mit einer ganzen Lebensmittelgruppe z.B. Obst, Gemüse, Fleisch/Fisch und wiederum andere können nur sehr wenige Lebensmittel überhaupt zu sich nehmen. Auffällig ist jedoch, dass es bei vielen Betroffenen eine große Überschneidung der "Safe Foods" (so nennen Betroffene ihre Nahrungsmittel, die sie problemlos zu sich nehmen können) gibt und das sind vor allem Kohlenhydrate oder fad schmeckende Lebensmittel, wie Brot/Toast, Nudeln, Pommes, Reis, Weizengebäck/Cracker aber oft auch Süßigkeiten. 

Die Aversion gegen eine Nahrung kann sich unterschiedlich äußern, es wird aber meist ein Ekel- oder Angstgefühl der Betroffenen beschrieben. Manche können die Nahrung noch nicht mal anfassen oder daran riechen, viele bekommen jedenfalls einen unkontrollierbaren Brech-/Würgreiz sobald sie das entsprechende Nahrungsmittel im Mund haben. Einige erbrechen dabei tatsächlich, bei anderen bleibt bereits Geschlucktes im Magen und es ist ein „leeres“ Würgen (wie z.B. beim medizinischen Rachenabstrich). Das Essen gegen den Würgreiz runterzuschlucken ist unmöglich. Für Betroffene ist es eine große Überwindung, unbekannte Nahrung oder Gerichte zu probieren, weil sie sich entweder schon wegen der Optik/Haptik/Geruchs ekeln oder aber weil sie Angst haben, einen Brechreiz zu bekommen sobald sie es in den Mund nehmen.
Für viele Eltern, Ärzte und Therapeuten ist es schwer zu unterscheiden, ob das Kind sich nur in einer "picky eating" Phase befindet, die sich irgendwann wieder auswächst oder ob eine ernsthafte Essstörung vorliegt.

ARFID/SED-Betroffene unterscheiden sich äußerlich nicht von Nicht-Betroffenen. Viele sind normal-gewichtig, manche haben Untergewicht, weil sie zu wenig essen können, andere haben Übergewicht, weil ihre "safe foods" hauptsächlich aus ungesunden Lebensmitteln bestehen. Das Gewicht spielt bei dieser Essstörung keine Rolle, genauso wenig wie die eigene Körperwahrnehmung oder der Wunsch einem bestimmten Körperbild zu entsprechen. 

Bei manchen wird aufgrund ihrer einseitigen Ernährung ein Mineralstoff- und Vitaminmangel im Blut nachgewiesen und haben dadurch eventuell auch körperlich spürbare Beschwerden. 

ARFID/SED stellt für die Betroffenen meist eine große (sozial-)psychische Belastung dar. Oft ist es für sie unangenehm, in Gesellschaft zu essen, weil sie nicht wollen, dass jemand ihr besonderes Essverhalten bemerkt oder einen dummen Kommentar dazu abgibt. Manche meiden deswegen Restaurantbesuche oder Urlaube mit Freunden und Kollegen, schlagen Einladungen aus und ziehen sich mehr zurück. Für die Eltern oder den Partner des Betroffenen ist es nicht selten auch eine Belastung. Denn meistens machen sie sich Sorgen, derjenige könnte durch die einseitige Ernährung unterversorgt sein oder sie müssen sich selber auch in ihrer Ernährung einschränken, weil sie nicht doppelt kochen wollen. Es ist sehr schwer als Nicht-Betroffener, die Essstörung zu verstehen und das führt oft zu Konflikten und angespannter Stimmung im Alltag

Vorkommen/Verbreitung und Verlauf

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Die Essstörung ist geschlechtsunabhängig und tritt in allen Altersgruppen auf. Sie zeigt sich meist mit Einführung der Beikost, kann aber auch je nach Ursache in jedem Alter entstehen und auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben.
Leider ist diese Form der Essstörung noch nicht sehr bekannt, in Deutschland sogar noch weniger als im englischsprachigem Raum, sodass nicht allzu viel über die Verbreitung von ARFID gesagt werden kann; die "Dunkelziffer" ist also sehr hoch. Dadurch, dass diese Essstörung so unbekannt ist, werden viele Betroffene einfach als "kompliziert", "mäkelig" oder "picky eaters" abgestempelt.

Mögliche Ursachen

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Warum manche Menschen ARFID/SED entwickeln konnte noch nicht geklärt werden. Es gibt bislang nur Vermutungen und Theorien. Ebenso ist unklar, ob eine genetische Prädisposition vorliegt oder ob das Essverhalten erworben wird. Es könnten auch mehrere Faktoren gleichzeitig ursächlich sein. Denkbar wäre jedoch: 

  • Traumatische Erfahrung im frühkindlichen Alter: insbesondere vorstellbar wäre eine Situation, in der das Kind genötigt wurde, etwas nicht schmeckendes zu essen.
  • Spezifische Phobie: Eine Phobie kann plötzlich und ohne erkennbaren Grund entstehen. Womöglich entsteht ein Assoziations-Fehler im Gehirn, bei dem Dinge und Emotionen im Rahmen von neurologischen Speicherprozessen falsch zugeordnet werden (hier: Essen gleich Angst oder Ekel). Betroffene könnten dann gut auf eine normale Phobie-Therapie ansprechen. 
  • Entgleisung des natürlichen Ekelgefühls: Jeder hat von Natur aus eine instinktive Abneigung gegen Bitteres, Vergorenes oder sonst wie Andersriechendes, die ihn vor potenziell Giftigem schützen soll. Bei SEDler könnte dieser Instinkt sich irrtümlich ausgeweitet haben und auf Nahrungsmitteln beziehen, die gar keine Bedrohung darstellen, vom Gehirn als solche aber wahrgenommen werden. 
  • Hochsensibler Geschmackssinn oder allgemeine Hochsensibilität: SEDler könnten einen besonders ausgeprägten Geschmackssinn haben durch den sie Lebensmittel sehr intensiv oder sogar verfälscht wahrnehmen, sodass bestimmte Lebensmittel tatsächlich unangenehm für sie schmecken, die für andere als normal wahrgenommen werden. Für diese Theorie spricht, dass so ziemlich alle SEDler fad schmeckende Lebensmittel problemlos essen können (z.B. trockene Nudeln, Weißmehlbrötchen).
  • Autismus: Einige Autisten haben auch mit SED zu kämpfen (womöglich aufgrund ihrer Hochsensibilität?). Es bedeutet aber nicht, dass alle SEDler auch gleichzeitig Autisten sind. 
  • Bei manchen tritt eine SED plötzlich nach bestimmten Erkrankungen auf (Schlaganfall, Infektionen, Magen-Darm-Erkrankung, hormonelle Veränderungen) oder aber nach der Einnahme bestimmter Medikamente, die dann die Geschmackswahrnehmung oder -nerven beeinträchtigen.

Therapie-/Behandlungsmöglichkeiten

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Durch den überwiegend frühen Erkrankungszeitpunkt und die dadurch sehr lange Krankheitsdauer können schwerwiegende Gesundheits- und Entwicklungsschäden entstehen. Bei sehr schlechtem Gesundheitszustand (z.B. starkem Untergewicht) ist eine intensiv medizinische Behandlung nötig; bei Ablehnung jeglicher kalorienhaltiger Nahrung des Betroffenen ist eine Ernährung durch PEG-Sonde angezeigt, eine Nasensonde ist kontraindiziert.

Neben der medizinischen Abklärung sollte eine ambulante, auf ARFID spezialisierte kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung, ggf. unter Einbezug der Eltern, erwogen werden. Da bundesweit nur sehr wenige Therapeuten ARFID/SED überhaupt kennen, hat es sich bisher für Betroffene als schwierig gestaltet, eine passende Behandlung zu finden. Im Ausland ist man da schon ein bisschen weiter: In England bspw. gibt es einen Therapeuten, der sich auf ARFID spezialisiert hat. Seine Behandlung soll recht erfolgreich sein, er arbeitet mit einer Mischung aus kognitiver Verhaltenstherapie und Hypnose. Er bietet auch Therapiestunden über Videocalls an, aber eine Stunde bei ihm kostet im dreistelligen Bereich und wird nicht von der Krankenkasse übernommen. 

Nach bisherigen Erfahrungsberichten wurden mit folgenden alternativen Behandlungen kleinere Therapieerfolge erzielt:

  • Kognitive Verhaltenstherapie/ Phobie-Therapie: Da den meisten Psychotherapeuten ARFID kein Begriff ist, gibt es keine konkrete Therapie dafür. Therapeuten können aber versuchen, die ARFID wie eine Angststörung/spezifische Phobie zu behandeln und dies auch so bei der Krankenkasse abrechnen.
  • Hypnose: Ein paar Betroffenen (auch Kindern) haben dadurch Fortschritte machen können.
  • Logopädie oder Ergotherapie: Einige Eltern haben dort gute Erfahrungen mit ihren von ARFID betroffenen Kindern gemacht.
  • Ernährungsberatung


Was auf keinen Fall hilft:

  • Den Betroffenen "hungern lassen" („Du isst das jetzt oder du isst gar nichts.") oder zum Essen zwingen oder erpressen („Du musst das essen! Sonst passiert XY“). Das führt nur zu einem massiven Vertrauensbruch und neuen traumatischen Erlebnissen. Das Verhältnis zum Essen wird dadurch noch gestörter und die Aussicht auf Besserung noch geringer. Letzteres passiert auch, wenn der Betroffene mit seinen besonderen Essgewohnheiten vor anderen (Familienmitglieder, Freunden) bloßgestellt oder sich darüber mokiert wird.
  • Betroffene, auch Kinder, die an ARFID/SED leiden, lassen sich nicht bestechen. Die angebotene Belohnung steht in keinem angemessenem Verhältnis zu ihrer Angst, ihrem Ekel und der Überwindung.
  • Mangelndes Verständnis & dumme Sprüche („Jetzt stell dich nicht so an“, „Das schmeckt sooo lecker, probier' doch wenigstens mal, sonst kannst du ja gar nicht wissen, ob du es magst“). Das ist so wie wenn jemandem mit Höhenangst gesagt wird: „Spring doch einfach runter, es ist statistisch so unwahrscheinlich, dass das Sicherungsseil reißt“ oder jemandem mit einer Spinnenphobie: „Jetzt trage die Spinne doch einfach nach draußen, Hauswinkelspinnen sind schließlich nicht giftig.“.

Weiterführende Informationen & Quellen

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Literatur:

  • American Psychiatric Association (APA). (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-5). Washington, DC: American Psychiatric Association.
  • Fisher, M.M., Rosen, D.S., Ornstein, R.M., et al. (2014). Characteristics of Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder in Children and Adolescents: A «New Disorder» in DSM-5. Journal of Adolescent Health, 55(1), 49–52.
  • Hartmann, A.S. (2021). Die Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme. Psychotherapeutenjournal, 2/2021, 134-143. https://www.psychotherapeutenjournal.de/ptk/web.nsf/id/li_ausgabe-2-2021.html
  • Nicely, T.A., Lane-Loney, S., Masciulli, E., Hollenbeak, CS., Ornstein, R.M. (2014). Prevalence and characteristics of avoidant/ restrictive food intake disorder in a cohort of young patients inday treatment for eating disorders. Journal Eating Disorder, 2(1), 21.
  • Ornstein, R.M., Essayli, J.H., Nicely, T.A., Masciulli, E., Lane-loney, S. (2017). Treatment of avoidant/restrictive food intake disorder in a cohort of young patients in a partial hospitalization program for eating disorders. International Journal Eating Disorders, 50(9), 1067–1074.
  • Thomas, J. J. & Eddy, K. T. (2019). Cognitive-behavioral therapy for avoidant/ restrictive food intake disorder. Cambridge, UK: Cambridge University Press.
  • Thomas, J.J., Lawson, E.A., Micali, N., Misra, M., Deckersbach, T., Eddy, K.T. (2017). Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder: a Three-Dimensional Model of Neurobiology with Implications for Etiology and Treatment. Current Psychiatry Reports, 19(8), 54. 



Websites: